“So etwas wie von vorne anfangen gibt es nicht“, sagte Eleanor mit tonloser Stimme. „Das ist ein Märchen. Wir können unserer Vergangenheit nicht entfliehen. Sie folgt uns, wohin wir auch gehen. Alles, was unsere Eltern getan haben und ihre Eltern vor ihnen - es verfolgt uns und wir können ihm nicht entfliehen." (Seite 201)

Cover: Fionas GeheimnisseZum Inhalt

Vor langer Zeit kehrte Kathleen ihrem Zuhause den Rücken zu, fest entschlossen, niemals zurückzuschauen. Fernab ihrer Heimat hoffte sie, ihre Scham über die Armut und die kriminellen Machenschaften der Familie abschütteln zu können.
Als Kathleen 35 Jahre später eine Einladung ihrer Schwester erhält, nimmt sie nur zögernd an. Mit ihrer Tochter Joelle im Schlepptau macht sie sich auf den Weg in ihre verschlafene Heimatstadt. Eigentlich soll der Ausflug die zerrüttete Beziehung zwischen Mutter und Tochter kitten. Doch die beiden tauchen ein in ihre bewegte Familiengeschichte und stoßen auf dunkle Geheimnisse.
Da ist Eleanor, Kathleens Mutter, die einmal so lebensfroh war. Kann ihre herzzerreißende Geschichte Licht in das Dunkel bringen? Und da ist Fiona, ihre Großmutter. Was hat es mit dieser rätselumwobenen Person auf sich? Schließlich muß Kathleen sich entscheiden: Vergeben oder Vergessen?

 

Vorbemerkung

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Kommentar / Meine Meinung

“So etwas wie von vorne anfangen gibt es nicht“, sagte Eleanor mit tonloser Stimme. „Das ist ein Märchen. Wir können unserer Vergangenheit nicht entfliehen. Sie folgt uns, wohin wir auch gehen. Alles, was unsere Eltern getan haben und ihre Eltern vor ihnen - es verfolgt uns und wir können ihm nicht entfliehen.“ (Seite 201)

Dies ist eindeutig ein ziemlich gutes Buch; ein aufwühlendes, nachdenklich machendes, tiefgründiges Buch. Zum „sehr gut“ fehlt mir eigentlich nur, daß die Rahmenhandlung etwas „hakt“ und gegen Ende hin, um es so auszudrücken, zu missionarisch wird. Nicht, daß die Rahmenhandlung unpassend wäre, sie ist für meine Begriffe lediglich zu schwach ausgeführt. Sie dient dazu, die Hauptteile zu verbinden, hätte aber selbst noch etwas mehr „Fleisch“ verdient und am Ende etwas dezenter und ausführlicher sein dürfen. Wenn man sich nach fünfunddreißig Jahren das erste Mal wieder sieht, geht es nicht vom „Hallo, wie gehts“ direkt über ins Erzählen der Vergangenheit. Vor allem bei dieser Art der Vergangenheit. Diese Szenen waren für mich zu schnell und etwas unglaubwürdig. Insofern ist mir verständlich, daß dieses Buch (im Gegensatz etwa zu "Die Apfelplückerin" nicht mit den Christy-Award ausgezeichnet wurde. [Die Verwandlung von Kathleens Vater vom Saulus zum Paulus ist zwar nachvollziehbar - und durchaus glaubwürdig - ] die Beschreibung der Szenen im letzten Teil ist mir aber zu holzschnittartig, zu sehr dem evangelikalen Muster entsprechend; solches gab es in der „Apfelpflückerin“ überhaupt nicht. Vielleicht bin ich aber als Nicht-Evangele auch nur zu empfindlich bzw. eine andere Sprache gewohnt. Allerdings ist das mein einziger wirklicher Kritikpunkt; deshalb steht der auch ganz am Anfang, damit all das Positive, was ich noch schreiben will, hängen bleibt.

Ich werde nie wieder eine Kirche betreten“, sagte Eleanor. „Mit Gott bin ich fertig, wenn das seine Art ist, die Welt zu führen.“ (Seite 182) „Die Art, die Welt zu führen“ und wie man damit zurecht kommt bzw. umgeht - auf diesen Satz in seiner ganzen weiten Bedeutung ließe sich das Buch reduzieren. Doch das wäre zu kurz gegriffen.

Wir wurden beide in diesem Frühling des Jahres 1962 erwachsen. Unsere Unschuld war verschwunden und unsere Kindheit vorbei. (Seite 93) Auch das ein Motiv, das wieder und wieder vorkommt. Jeder Mensch muß diesen Prozeß durchlaufen; mal ist er mehr, mal weniger schmerzlich. Und bisweilen mehr von der Umgebung, den Vorfahren abhängig, als einem bewußt ist.

Die Rahmenhandlung geht um Kathleen und ihre jugendliche Tochter Joelle. Kathleen hat ihre Arbeitsstelle verloren, weil sie sich weigerte, einer Anordnung des Chefs zu folgen, die eine, freundlich gesagt, sehr lockere Gesetzesauslegung bedeutet hätte (ohne daß das näher definiert wird). Dazu sieht sie sich nicht in der Lage. Währenddessen wurde Joelle bei einem Ladendiebstahl erwischt, worüber ihre Mutter auf ihre Art völlig ausrastet, ohne daß zu diesem Zeitpunkt klar ist warum. Und dann kommt eine Einladung von Kathleens Schwester zu einer Party aus Anlaß der Rückkehr des Vaters. Kathleen war vor rund 35 Jahren von zuhause weggegangen und hatte seither keinerlei Kontakt mehr zu ihren Verwandten. Joelle weiß nicht einmal, daß sie Onkel und Tante hat. In dieser gespannten Ausgangslage machen sich die beiden entgegen der ursprünglichen Planung schließlich doch auf den Weg nach Riverside / NY.

Die lange Autofahrt nutzt Kathleen, um aus ihrer Kindheit und von ihrer Mutter Eleanor zu erzählen. Was da ans Tageslicht kommt, reicht mehr als einmal zum Erschrecken. Es war eine furchtbare Kindheit, die sie hatte. Wenn man so ein vegetieren denn Kindheit nennen kann. Am Ende war es nur konsequent, daß sie im Streit von zuhause wegging, um zu studieren und ihren eigenen Weg zu gehen.

So sieht es jedenfalls an dieser Stelle aus.

Am nächsten Abend besuchen die beiden eine alte Bekannte aus Kathleens Jugendzeit, Mrs Hayworth. Die läßt sich nicht lange bitten und erzählt den Teil aus Eleanors Leben, den Kathleen nicht kennen konnte. Das wirft ein ganz anderes Licht auf die Situation und erklärt vieles bisher für Kathleen (und uns Leser) Unverständliche.

Den Rest der Geschichte erfahren wir dann von dem inzwischen 82-jährigen Leonhard, dem Bruder von Kathleens Mutter. Wieder sieht alles ganz anders aus.

Wie Teile eines Puzzles fügen sich die Geschichten zu einem Gesamtbild zusammen, das man als tragische Verkettung von Umständen, als tragisches Wiederholen ähnlicher Situationen interpretieren könnte. Ich will hier nicht mehr schreiben, weil ich dazu ziemlich viel vom Inhalt spoilern müßte. Das Buch lebt davon (und erreicht seine Wirkung) eben gerade dadurch, daß man am Anfang überhaupt nicht absehen kann, wo die Reise am Ende hinführen wird. Die Autorin verfährt dabei m. E. recht geschickt, indem sie die Geschichte rückwärts erzählt: jeder steuert den Teil bei, den er weiß. Als die letzte Geschichte erzählt und der Kreis sich schloß, hat mich die Tragik dessen, was sich da vor mir ausgebreitet hat, bis ins Innerste erschüttert.

War Eleanor [zu Beginn eine fast schon hassenswerte Person, so empfand ich, je weiter das Buch voranschritt, mehr und mehr Mitleid mit ihr, bis am Schluß die Grenze zum blanken Entsetzen über das, was sie im Leben mitgemacht hat, die Oberhand gewann.]

Fionas Schicksal hat mich seltsam wenig berührt, ohne daß ich weiß weshalb. Vielleicht, weil sie mir zu Beginn ihrer Geschichte zu berechnend war? Aber, wenn man so will, hat auch sie mehr als genug gebüßt.

Indem die Autorin langsam und unerbittlich die Lebensgeschichten von Kathleen, ihrer Mutter Eleanor und der Großmutter Fiona erzählt, wird auf erschreckende Weise deutlich, wie sehr die zu Beginn der Rezension zitierte Stelle aus dem Buch zutrifft. Selbst dann, wenn man die Geschichte (seiner Eltern / Großeltern) überhaupt nicht kennt. Ein Stein, einmal ins Wasser geworfen, verursacht eine Welle, der sich niemand entziehen kann. Dabei waren die Handlungsabläufe so zwingend, so folgerichtig, die Personen so glaubwürdig, daß ich fürchte, daß solches durchaus auch im richtigen Leben möglich ist. Und immer wieder vorkam / vorkommt.

Deutlicher möchte ich nicht werden, weil ich damit zu viel verraten würde. Gerade dieses Buch lebt aber, wie gesagt, davon, daß man zu Beginn nicht weiß, wo man am Ende ankommt. Es zeigt, wie ungemein vielschichtig, krumm, schwer verständlich ein Menschenleben sein kann. Wie es kommt, daß aus einem fröhlichen Teenager eine verzweifelte, gebrochene Frau wird. Wie die Vergangenheit fortwirkt und die Zukunft zerstört. Vielleicht kann auch nur der das Buch in seiner Gänze erfassen, der im Leben analoge Erfahrungen mit Menschen wie die Protagonisten gemacht hat. Auf jeden Fall ein sehr lesenswertes Buch, bei dem ich - ich gebe es nur ungern zu - an manchen Stellen die Tränen denn doch nicht mehr zurückhalten konnte. Ein Buch, das bei mir noch lange nachwirken wird.

„Worte können dich täuschen. Nein, achte darauf, was er für dich aufzugeben bereit ist.“
„Ob die Liebe echt ist“, sagte sie, „erkennst du daran, ob jemand bereit ist, für dich ein Opfer zu bringen.“
(Seite 359f)


Mein Fazit

Eine Art Familiengeschichte über drei Generationen. Liebe und Haß, Freude und Leid ergeben ein Muster, das in tragischer Weise jeden der Beteiligten beeinflußt und bestimmt. Vermutlich leider nur zu real.

 

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