Kirchen sind Anziehungspunkte für Menschen, die sich tarnen wollen, und für Menschen, die Hilfe suchen. (Seite 111)

 

Cover: Das Unfassbare begreifenZum Inhalt

Seit einigen Jahren erschüttern immer neue Berichte über Mißbrauch im kirchlichen Bereich die Menschen. Die Autorin kennt die Thematik aus ihrer langjährigen Praxis als Therapeutin. In diesem Buch gibt sie einen Überblick über solche Gewalt in christlichen Kreisen und denkt über Hilfen für Betroffene, aber auch für die Helfer nach.

 

 

 

Meine Meinung

Irgendwann ist das Maß voll, läuft das Faß über, reicht es. Als die ersten Berichte über Mißbrauch im kirchlichen Bereich auftauchten, wußte ich nicht so recht, was davon zu halten ist. Vor vielen Jahren hatte ich ein Manuskript in Händen, das sich mit einer Kindheit in einem kirchlichen Waisenhaus beschäftigte - das war nicht schön zu lesen und erschien zum damaligen Zeitpunkt (es war um die Mitte der 80er Jahre) recht utopisch, eher ein Einzelfall denn die Regel. Doch je mehr Berichte ans Tageslicht kommen, um so mehr verfestigt sich der Eindruck, daß da möglicherweise ein System dahinter steckt. Aber wie kann das sein, wo doch offiziell etwas ganz anderes gepredigt wird, und das überhaupt nicht zu den Aussagen der Bibel, vor allem auch dem Neuen Testament, paßt?

Die Zweifel wuchsen zusehends und erreichten schließlich ein Ausmaß, das von „unfassbar“ nicht annähernd zutreffend beschrieben wird. Da kam mir ein Buch mit dem Titel „Das Unfassbare begreifen. Gewalt und Missbrauch in christlichen Kreisen“ genau richtig. Denn wenn es schon „unfassbar“ ist, wollte ich doch zumindest in den Grundzügen verstehen, wie und was da seit anscheinend Jahrzehnten hinter den Kulissen passiert.

Um es kurz zu machen: das Buch hat meine Fragen leider nur teilweise beantwortet. Ich bin nun zwar klüger als vor dem Lesen, doch nicht so klug, wie ich hatte gehofft zu werden. Dabei ist die Themenvielfalt auf den ersten Blick umfassend:
 - Grundlagen
 - Formen der Gewalt
 - Folgen der Gewalt
 - Täter und Kirche
 - Hilfe für Betroffene
 - Hilfe für Täter
 - Hilfe für Helfer
 - Heilung für Gemeinden

Doch je weiter ich im Buch kam, um so verwirrter wurde ich. Ich hatte zunehmend das Gefühl, daß man zum richtigen und vollständigen Verständnis des Buches eigentlich ein Psychologiestudium braucht - das habe ich aber nicht. Auch ist mir das Buch an vielen Stellen zu ungenau. Vermutlich sollen damit Betroffene geschützt werden, aber dann wäre es meines Erachtens besser gewesen, das gar nicht zu erwähnen. Denn so ist es für meine Begriffe wieder nur für Insider verständlich (also solche mit Psychologiestudium). Ich denke da zum Beispiel an die Familie, von der auf Seite 134 die Rede ist. Das ist so allgemein und - fast hätte ich geschrieben - nichtssagend, daß ich damit überhaupt nichts anfangen konnte.

Konkret erwähnen möchte ich auch die Problematik der Dissoziation, der Persönlichkeitsabspaltung (S. 31ff sowie viele weitere Stellen im Buch). Es sei zugegeben, daß ich davon hier zum ersten Mal gehört (bzw. gelesen) habe. Auch hier wieder das Gefühl, daß ein solch komplexer Sachverhalt eigentlich nur mit einem Psychologiestudium zu verstehen ist. Die Autorin erklärt das zwar im Buch, doch für mich als Laien war das an vielen Stellen kaum nachvollziehbar. Am ehesten konnte ich es mir mit dem Thriller „Telefon“ mit Charles Bronson aus der Hochzeit des Kalten Krieges erklären. In diesem Film haben die Sowjets Schläfer in die USA eingeschleust, die von ihrem Agentenstatus nichts wußten, weil eine entsprechende „Gehirnwäsche“ vorgenommen worden war. Durch einen „Trigger“ (das war ein Zitat aus einem bestimmten Gedicht, der per Telefonanruf ausgelöst werden konnte - daher der Filmtitel) handelten sie wie unter Hypnose und zündeten vorher fest installierte Bomben. Ich konnte mir bisher solche und ähnliche Vorgehensweisen nur in Filmen oder Büchern vorstellen - um das für die Realität annehmen zu können, hätte ich genauere Beschreibungen und Erklärungen gebraucht. Aber die gab es nicht - s. o.

Auf Seite 114 schreibt die Autorin: „Einige Therapeuten wissen, wovon ich spreche, andere Leser werden vielleicht an dem Unfassbaren zweifeln.“ Ich zähle bei diesem Buch leider zu oft zu den „anderen Lesern“, was zur Folge hat, daß mir das Buch nicht das gebracht hat, was ich von ihm erwartet habe. Aber vielleicht hat der Verlag mit seinem Beschreibungstext bei mir auch eine falsche Vorstellung erweckt.

Gut gefallen haben mir dann die beiden letzten Abschnitte über Hilfe für Helfer und Gemeinden. Ich würde mich zwar für nicht unbedingt geeignet halten, ein Helfer zu sein, aber die Richtlinien und Hinweise in diesen Abschnitten sind gut durchdacht, sinnvoll und sollten beachtet werden. So, wie hier beschrieben, sollte es sein. Ist es aber leider, wie auch das Erscheinen dieses Buches zeigt, nicht.

Insgesamt mag das Buch für Menschen mit Vorkenntnissen oder solchen, die in der täglichen Arbeit mit dieser Problematik zu tun haben, nützliche Informationen bieten. Mir als Laien, der eher eine Erstinformation suchte, konnte es diese leider nicht im gewünschten Ausmaß bieten.


Mein Fazit

Ein Buch, für das man für meine Begriffe Etliches an Vorkenntnissen in Psychologie mitbringen sollte. Die Praxishinweise in den letzten beiden Kapiteln für Helfer und Gemeinden sind allerdings einsichtig, gut verständlich und durchdacht.

 

 

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