Cover: der die Schuld vergibtZum Inhalt

In einer kalten Januarnacht wird eine junge Studentin auf dem Weg zum Studentenwohnheim überfallen und vergewaltigt. Der Täter entkommt. Dynah wird schwanger.
Eine Welt bricht für sie zusammen. Was tun mit diesem Kind, dem ungewollten Ergebnis eines Verbrechens? Wird ihr christliches Elternhaus sie durch diese Krise tragen? Oder ihr Verlobter? Die christliche Privatuniversität, an der sie studiert? Werden die Anti-Abtreibungsparolen, die sie lernte, halten? Haben nicht doch die anderen recht, zumal der Arzt ohne Nachzudenken Abtreibung als die einzig mögliche Handlungsweise hinstellt?
Abrupt aus ihrem wohlbehüteten Dasein herausgerissen, erlebt und erleidet Dynah den Unterschied zwischen Theorie und Praxis, zwischen raschen Beteuerungen und der Realität. Ist Gott auch in dieser Katastrophe da?
Packend und einfühlsam schildert Francine Rivers in diesem Roman die Problematik um Abtreibung, Schuld, Vergebung und Ja zum Leben. Ein Buch, das Mut machen will.

 

Kommentar / Meine Meinung

Aber manchmal kommt einem das Leben in den Weg, und dann muß man halt tun, was gerade nötig ist.(Seite 72)
Was gerade nötig ist. Ohne Rücksicht. Ohne Nachzudenken. Vom Nachdenken an oder über die Folgen ganz zu schweigen. Aber was ist „gerade nötig“? Wer legt das fest, nach welchen Maßstäben richtet sich das? Und ist das Offensichtliche, das gerade Nötige, das doch vollkommen legale auch über den momentanen Zeitpunkt, über den Tag hinaus, auf lange Sicht gesehen, das Richtige?

Dynah kommt aus einem perfekten Elternhaus, studiert an einer perfekten Universität, hat den perfekten Verlobten, hat das perfekte Leben vor sich.

Denkt sie.

Bis in einer kalten Januarnacht das Undenkbare, das Unentschuldbare passiert. Auf dem Heimweg von ihrer Arbeitsstelle in einem Altenheim zum Studentenwohnheim wird sie überfallen und vergewaltigt. Noch unter Schock lehnt sie die „Pille danach“, die der Arzt ihr im Krankenhaus routinemäßig und beiläufig geben will, obwohl die Chancen einer Schwangerschaft sehr niedrig sind, ab. Dynah kommt aus einem christlichen Elternhaus, wurde mit dem strikten „Nein“ zur Abtreibung erzogen. Ihr Verlobter, der bald Pastor sein wird, ist ein fanatischer Gegner der Abtreibung. Zumindest in seinen Reden und Predigten. Von der Universität ganz zu schweigen. Soweit die Theorie.

Einige Wochen später muß sich Dynah eingestehen, daß sie doch schwanger geworden ist. Die Theorie muß sich in der Praxis bewähren. Und plötzlich liegt die schöne heile Welt in Trümmern, als ob ein Bombenteppich niedergegangen wäre und alle Fassaden für immer zerstört hätte. Zurück bleibt die Ruine einer Lebensplanung; ihre Welt liegt in Schutt und Asche. Auch wenn sich das erst nach und nach enthüllt.

Ethan, ihr Verlobter, ein absoluter Gegner der Abtreibung, ist plötzlich dafür und drängt sie, „das“ zu machen, bevor jemand etwas von ihrer Schwangerschaft mitbekommt. Ihre Zimmerkollegin will sie zur Abtreibung überreden. Sie sucht Rat bei einem Pastor. Die Gemeinde hat jedoch gerade einen Prozeß am Hals, weil sich jemand umgebracht hat, und die Eltern nun Schadenersatz wollen. Also keine seelsorgliche Tätigkeit mehr, zu risikoreich. Und keinen Rat für Dynah außer dem Hinweis, daß eine Abtreibung legal sei. Schließlich erfährt der Dekan durch Ethan von der Situation - und stellt sie vor die Wahl: entweder Abtreibung („natürlich sind wir dagegen, aber in ihrem Fall...“; „es könnte ja eine Fehlgeburt geben ...“) oder Verlassen der Universität. Schwangere ledige Studentinnen werden nicht geduldet, das ist gegen die Moral.

Dynah ist in einem schweren Gewissenskonflikt. Sie will das Kind nicht, aber sie will auch nicht abtreiben. Niemand versteht ihre Situation, niemand hilft ihr, alle denken nur an sich. Wäre da nicht Joe, der beste Freund Ethans, der Dynah zuhört, sie tröstet, für sie da ist - sie sucht, als sie plötzlich verschwindet und es nur noch einen Ausweg zu geben scheint.

Sein Auftritt im Büro des Dekans war filmreif und zählte für mich zu den Glanzpunkten im Buch. Denn hier wird die ganze verlogene Moral (anders weiß ich es nicht zu bezeichnen) auf den Punkt gebracht, so daß sogar der Dekan sein Scheitern an seinen eigenen Maßstäben erkennen muß. Denn Dynah hat alle Brücken abgebrochen und ist nach Hause zu ihren Eltern gefahren. Doch dort kommt sie vom Regen in die Traufe.

„Abtreibung“ ist das einzige, was den Eltern einfällt, obwohl ihre ganze Erziehung hindurch Abtreibung undenkbar war. Als die Großmutter zu Besuch eintrifft, kommt es zur Explosion. Langsam kommen die ganzen tragischen Verwicklungen der letzten Jahrzehnte zum Vorschein, und auch hier fallen die Fassaden gnadenlos in sich zusammen. Dynah flieht wieder, alleine und ohne Hilfe muß sie zu einer Entscheidung kommen. Doch ist sie immer alleine? Immer wieder ist in kritischen Situationen Joe da, steht ihr zur Seite und hilft.

Hatte ich zunächst etwas Probleme mit dem Buch, weil mir die Übersetzung nicht so sehr zusagte, war ich zu diesem Zeitpunkt dermaßen in den Bann gezogen, daß ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. An manchen Stellen hatte ich das Gefühl, der Text „klebt“ zu sehr am amerikanischen Original bzw. benutzt im Deutschen Ausdrücke, die für mich nicht so wirkmächtig sind wie der Originaltext. Das trat dann aber hinter den Handlungsfortgang zurück.

Ich will jetzt nicht näher auf den weiteren Inhalt eingehen, weil das zu viel verraten würde. Es entwirrt sich ein Geflecht von Schuld und gegenseitigen Verletzungen, das bisweilen beängstigend real wirkt. Vor allem, wenn man die Abtreibungszahlen im Hinterkopf hat. Der Originaltitel „The Atonement Child“ heißt wörtlich übersetzt „Das Sühnekind“, „The Atonement“ bedeutet „das Sühneopfer Christi“. Der Titel ist, wie sich im Laufe des Buches herausstellt, überaus passend, wenngleich auch der deutsche in gewisser Weise treffend ist.

Nur eine Stelle von der Seite 292 möchte ich kurz zitieren, weil da eine Antwort auf die Frage „Warum“ steht, die vielleicht die einzig mögliche ist:
„Warum ist das Leben so ungerecht?“
Evie strich ihr über das Haar. „Die Frage hab ich mir schon öfter gestellt. Warum mußtest du damals in dem dunklen Park sein? Warum mußte ich diesen Krebs kriegen? Und die Antwort ist immer dieselbe: Warum eigentlich nicht?"


Dynah wurde zu einer lebendigen Person für mich; der Konflikt, in den sie gestürzt wurde, war für mich greif- und nachvollziehbar. Letztlich geht es auch um die Frage, ob man ein Verbrechen mit einem anderen „gut-“ bzw. ungeschehen machen kann. Das Buch packt ein schwieriges Thema engagiert an. Ich fürchte, die fehlenden Hilfen wären hier in Deutschland genauso wie es für die USA beschrieben ist. Von der gesellschaftlichen Seite und dem Druck von dort her mal ganz abgesehen.

Beendet habe ich das Buch übrigens vor dem Epilog. Den hatte ich zum einen schon vorher gelesen, zum anderen wollte ich mir vor dem Schlafengehen diesen Faustschlag in den Magen ersparen.

Das Furnier der Zivilisation war dünn.(Seite 77) Wie dünn dieses Furnier ist, wurde mir während der Lektüre mehr und mehr bewußt; ich denke inzwischen, daß es ein zusammenhaltendes Furnier nicht (mehr?) gibt. Unrecht wird nicht zu Recht, nur weil es legal ist.

Leider wird jedoch auch dieses Buch nicht die Augen für das himmelschreiende Unrecht öffnen, das legal jeden Tag aufs Neue geschieht. Aber in einer Gesellschaft, die der Kultur des Todes verhaftet ist, ist anderes eigentlich auch nicht zu erwarten.

 

Mein Fazit

Was passiert, wenn man in eine existentielle Krise gerät? Was sind die anscheinend feststehenden Grundüberzeugungen dann noch wert - die eigenen, wie die der Umwelt? Dynah, überzeugte Gegnerin der Abtreibung, wird nach einer Vergewaltigung schwanger. Sie selbst, ihr Verlobter, die christliche Universität, ihre Eltern müssen plötzlich die Theorie in die Praxis umsetzen.
Oder noch kürzer: vom Scheitern der Theorie in der Praxis. Ein beeindruckendes Buch.

 

Noch eine Anmerkung

Wer nun meint, das alles als fiktionalen Roman abtun zu können: in dem Buch verarbeitet und thematisiert die Autorin u. a. die Folgen ihrer eigenen Abtreibung. Francine Rivers weiß also aus Erfahrung, wor´über sie schreibt.

 

 

Bibliographische Angaben

Aus dem Amerikanischen von Friedemann Lux
316 Seiten, kartoniert, SCM Johannis Verlag, Lahr 2005
Das Buch ist derzeit leider nicht lieferbar.

Ursprünglich geschrieben am 19. März 2010